Shitstürme zum Jubiläum

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Hier stehe ich. Kann ich auch anders?

Nach einem Jahr voller großer und kleiner Veranstaltungen in Wittenberg, Berlin, ganz Deutschland und darüber hinaus ist es mehr als verständlich, dass jetzt zum Höhepunkt des Reformationsjubiläums allgemeine Müdigkeit einsetzt. Es war schlicht zu viel: zu viel Luther, zu viel Event, zu viel Kommerz. Ist es dieser eine Mensch wirklich wert, dass wir uns ein Jahr lang mit ihm beschäftigen? Was ist mit Calvin, Zwingli und den anderen Reformatoren? Warum nicht Ghandi oder Buddha auf die Agenda setzen?

Ja und nein.

Nein, weil es nicht nur ein Mensch war, sondern viele, Freunden, Theologen, Fürsten und andere, die am Erfolg der Reformation mitwirkten. Nein, weil er zufällig seine Thesen zur richtigen Zeit angeschlagen hat. (Andere vor ihm sind für die gleichen Ideen verbrannt wurden). Nein, weil es nicht um Luther geht, sondern darum, wie wir heute leben wollen.

Ja, weil Luther den Autoritäten seiner Zeit die Stirn geboten hat, weil er auf seinen Erkenntnissen bestand. Ja, weil seine Aufforderung, jeder müsse selbst die Bibel lesen können, zu einem Bildungsaufschwung geführt hat, von dem wir heute profitieren. Ja, weil er öffentlich erklärte, dass wir uns vor Gott nicht rechtfertigen können, sondern dass wir allein durch Gnade bestehen. Ja, weil er trotz aller Verdienste ein Mensch mit Fehlern und Schwächen war.

Wer traut sich denn heute noch im gesättigten Mitteleuropa noch für seine Überzeugung aufzustehen? Wer spricht unangenehme Wahrheiten aus, die uns etwas abverlangen?

Wir kaufen keine Ablassbriefe mehr. Aber wenn wir für unseren Flug nach London etwas mehr bezahlen, um das entstandene CO2 zu kompensieren, ist das wirklich was anderes? Ist der Einkauf von Fairtrade-Kaffee Zeichen eines veränderten Lebensstils oder kaschieren wir nur unser schlechtes Gewissen, wenn wir anschließend bei H&M einkaufen? Wir unterschreiben Petitionen für Journalisten, die in der Türkei eingesperrt sind, aber wir trauen uns nicht, unserem Chef die Wahrheit zu sagen, wenn er mit seiner Entscheidung daneben liegt.

Ein Mensch wie Luther würde heute mit seiner Widersprüchlichkeit anecken. Shitstürme wären vorprogrammiert, wenn er sich über Juden, Päpste und andere ausließe. Ohne solche Äußerungen gutzuheißen wünsche ich mir mehr Gnade miteinander, mehr Austausch von Argumenten statt Verurteilungen. Denn genau das hat Luther auch getan: „Das ist meine Erkenntnis, wenn ihr sie widerlegen könnt, will ich abschwören.“

In diesem Sinne feiere ich den Reformationstag im Gedenken daran, was passieren kann, wenn eine Person für ihre Überzeugung eintritt. Egal, ob sie nun Martin Luther, Rosa Parks, Edward Snowden oder Lieschen Müller heißt. Ob sie darüber hinaus fehlbar ist oder nicht, schmälert nicht den Verdienst.

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