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Dekonstruier dich mal wieder! (1/20)


Die Zeit des großartigen Alles-wird-gut-Glaubens ist vorbei.

Ich sitze in einer meiner ersten Vorlesungen im Hörsaal der Uni Köln und lausche dem großen Redner: Prof. Dr. Dr. Kersten Reich schwadroniert über den Konstruktivismus – und ich verstehe kein Wort. Prof. Reich ist „the fucking Godfather“ des Konstruktivismus, zumindest im Bereich der Pädagogik. Viele Jahre später ist der Konstruktivismus in meinem Alltag angekommen. Und auch in meinem Glauben. Ich habe ihn auf meine Weise interpretiert und er hilft mir Entwicklungen einzuordnen und auch die Frage zu beantworten, woran ich noch glaube. Warum?

Der Konstruktivismus wird als eine Wissenschafts- oder Erkenntnistheorie verstanden. Das bedeutet: Er ist eine Theorie, die neues Wissen generiert, die zu neuen Erkenntnissen verhelfen soll. Es gibt unterschiedliche Wissenschaftstheorien. Die Naturwissenschaft zum Beispiel will Wissen durch wissenschaftliche Versuche generieren. In den Geisteswissenschaften tut man das gleiche, aber durch die Auslegung von Texten. Und wie generiert der Konstruktivismus seine neuen Erkenntnisse? Durch einen dreifachen Schritt: Dekonstruktion, Rekonstruktion und Konstruktion. Ich will das erklären.

Dekonstruktion bedeutet etwas bereits Geglaubtes oder Bewiesenes zu hinterfragen. Es auseinanderzunehmen, zu kritisieren, in seine Einzelteile zu zerlegen, es von unterschiedlichen Seiten neu zu betrachten. Rekonstruktion bedeutet, es neu zu verstehen, zu fragen, wie es zustande kam und wie es anders verstanden werden könnte. Um im letzten Schritt eine neue Konstruktion zu erschaffen, es anders zusammen zu setzen, anders zu verstehen, neue Schlüsse zu ziehen, neue Erkenntnisse zu bekommen.

Am Anfang meines Weges mit Gott hätte ich nie für möglich gehalten, dass es diese drei Schritte im Glauben geben würde. Ich hatte Gott erlebt und damit die Antwort auf alle Fragen bekommen. Alles schien klar zu sein und besonders ich war ganz gut da drin, in Diskussionen aus meinem neuen Glauben die Antworten meinen Gesprächspartnern zu präsentieren. Für mich war klar, dass ich ab jetzt nur noch von Erkenntnis zu Erkenntnis gleiten würde, dass Gott mir ständig Neues offenbart.

Durch die Erfahrungen mit der unsichtbaren Welt wurde ein völlig neuer Raum für mich geöffnet, der viele neue Antworten enthielt. Gab es Schwierigkeiten, war plötzlich die Möglichkeit gegeben, diese zum Beispiel mit dämonischen Mächten oder dem Teufel zu erklären. Dieses Weltbild hat eine ganze Zeit gut funktioniert. Bis in die ersten Jahre nach der Gründung der Jesus Freaks ging das noch so.

Doch dann passierte etwas. Es gab die erste Krise. Wir hatten auf einem Einsatz einen schlimmen Autounfall, bei dem ein junges Mädchen starb, und ich war als Leiter verantwortlich. Diese Krise hat eine Menge Fragen in mir ausgelöst. Man könnte im Rückblick auch sagen, eine Menge Dekonstruktion. Mit diesem schlimmen Ereignis funktionierte mein bis dahin gültiges Glaubensbild nicht mehr. Meine Theologie musste hinterfragt werden. Sie musste sich verändern. Auch wenn ich als Prediger diese Katastrophe nach außen hin anderes erklärt habe (es gab einen Ruf in die Gemeinde nach dem Motto „Jetzt erst recht!“), ist damals etwas in mir kaputt gegangen. Mein jungfräulicher Glaube, meine Unversehrtheit mit Gott, meine kindliche Gottesbeziehung konnte so nicht mehr weiter existieren.

Anschließend folgte eine Phase der Rekonstruktion, die aber nicht wirklich tief ging. Ich habe einiges hinterfragt, aber neue Antworten nicht wirklich zugelassen. Wohl auch, weil ich zu sehr beschäftigt mit der Arbeit in der noch jungen Bewegung war. Doch die nächste Phase der Dekonstruktion ließ nicht lange auf sich warten und viele von euch wissen davon. 1999 gab es, nach vielen sehr fruchtbaren Jahren, wieder eine Krise. Burnout, Scheidung, Drogenrückfall, Überdosis, um es mit einigen Schlagworten zu beschreiben. Aus diesem Loch wäre ich fast nicht wieder rausgekommen. Sicher hatte ich große Scheiße gebaut, aber dennoch kam die bohrende Frage wieder hoch: Wo war da Gott? Wo war der „gute Hirte“? Warum hat er nicht auf mich aufpassen können? Wenn Gott so mächtig ist, wie wir immer singen, wo ist seine führende, starke Hirtenhand in so einer Situation? Warum hat er als Hirte das Böse, den Wolf, nicht fern gehalten? Und der stümperhafte Erklärungsversuch mit dem „freien Willen“ reichte mir damals schon lange nicht mehr aus.

Wieder schloss sich eine Phase der Rekonstruktion und der Konstruktion an. Ich fand neue Antworten und habe anschließend viel darüber gepredigt (Stichwort: Mit Gott in der Wüste). Doch wer dachte, das wäre es nun gewesen, irrt sich. Es ist nicht mal zwei Jahre her, da schien das Leben oder Gott selbst wieder alles einzureißen, was ich bis dahin für richtig hielt. Mir ist schon ganz schwindelig vom vielen Dekonstruieren. Ich will eigentlich nicht mehr.

Manchmal sehne ich mich zurück, nach der ersten Zeit, wo es noch keine Fragen gab und alles so eindeutig und klar erschien.

Aber ich denke, das ist vergleichbar mit dem Erkenntnisstand eines Babys. Du wirst versorgt, beschenkt und beschützt, aber bist eben noch ein Baby. Gott hat es so gewollt, dass wir groß und erwachsen werden, warum auch immer. Dass sich unser Glaube, also letztendlich die Beziehung zu ihm, immer weiter verändert, ist sein Plan. Auch wenn sich das streckenweise kacke anfühlt. Mit jeder Dekonstruktion und Rekonstruktion stellt sich die Frage neu: Woran glaube ich eigentlich noch? Und bei mir wird das immer weniger. Die Zeit des großartigen „Alles wird gut“-Glaubens ist vorbei. Die einfachen Antworten sind mir ausgegangen und die Bibel hält sie auch nicht alle parat. Das Leben ist zu kompliziert und auch das Leben mit Gott zu vielschichtig, dass diese Worte immer funktionieren. Dekonstruktion des Glaubens ist ein schmerzhafter Prozess. Aber wer dem aus dem Weg geht, wird sich am Ende nur mit frommen Phrasen über Wasser halten können. Oberflächliche geistliche Sprücheklopfer gibt es genug in der Kirche Christi. Deren Glauben empfinde ich als unattraktiv und nicht erstrebenswert.

In diesen Phasen hat mir oft ein sehr alter Text geholfen. Es ist das berühmte Apostolische Glaubensbekenntnis. In Zeiten des Zweifels habe ich es mir immer wieder aufgesagt, es neu auf mich wirken lassen. Vielleicht hilft es auch dir in den Zeiten, wo sich dein Glaube verändert. Denn das bedeutet immer Unsicherheit und Ungewissheit. Man geht mit jedem Schritt in ein unbekanntes Land. Und da hilft es zumindest mir, mich mit diesem alten Bekenntnis an das zu erinnern, was für tausende von Jahren für viele Christen als Basis gegolten hat. Daran glaube ich noch und an diesem Bekenntnis will ich mich immer wieder reiben.

Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, / und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, / empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, / gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, / hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, / aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; / von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. / Ich glaube an den Heiligen Geist, / die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, / Vergebung der Sünden, / Auferstehung der Toten / und das ewige Leben. / Amen.


Martin Dreyer hat nicht die Jesus Freaks gegründet, er wohnt nicht mehr in Hamburg und war zwei Jahre nicht auf dem Freakstock. Er schreibt gerade an einem neuen Buch „Die Angst hat ein Ende“, welches im nächsten Frühjahr erscheint. Martin wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.


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