Bin ich mehr als die Summe meiner Labels? (5/19)
Labels.
Eine Andacht
Heute soll es um Labels gehen. Die Labels, die wir uns selbst geben und solche, die andere uns geben.
Was bist du für ein Mensch? Bist du männlich oder weiblich? Kommst du aus Deutschland oder aus dem Ausland?
Bist du Christ:in? Ein Jesus Freak? Gehörst du eher dem konservativen Christentum an? Bist du Charismatiker:in? Bist du eher liberal?
Bist du politisch interessiert? Bist du gesellschaftlich progressiv? Liberal? Sozialistisch? Oder gar aus dem rechten Flügel?
Bist du hetero? Bist du vielleicht homosexuell? Oder queer? Oder etwas dazwischen?
Es gibt Labels, mit denen wir einfach leben. Und es ist ziemlich nützlich, unsere soziale Welt anhand solcher Labels zu ordnen. Ohne diese Labels könnten wir uns nicht wirklich durch die Welt bewegen. Ohne Schubladen, in die man Sachen einordnen kann. Ohne Ordnung oder Struktur.
Und leben wir jetzt nicht in diesem Paradox: Einerseits hält sich jede:r für so verdammt einzigartig. Jede:r versucht über die sozialen Medien andere davon zu überzeugen, dass das eigene Leben etwas Einzigartiges wie ein Kunstwerk ist, unvergleichlich mit anderen. Andererseits feiern wir unsere Labels wie nie zuvor.
Die Sache mit den Emo-Bands
Ich muss dabei an Emo-Bands denken. Erinnert sich noch jemand an Emo? Ich meine die Musikrichtung. Die Sache mit Emo war die: Diese Richtung war fest definiert: Jungs, die die Erlaubnis haben, traurige Musik zu machen und so der Welt etwas von ihren Schmerzen erzählen durften. Jede:r wusste, wie Emo klingt. Andererseits: Man konnte keine einzige Emo-Band finden. Bei einem Interview mit einer Band, die jede:r als “Emoband” bezeichnen würde, sagte der Sänger immer: »Wir mögen dieses Label nicht, wir mögen diese Schublade nicht.« Und alle dachten: “Ah ja, erst miese Musik machen und sich dann aus der Verantwortung stehlen!” Jede:r wusste: Nur weil man ein Label ablehnt, wird es dadurch nicht unwahr. Eine Emo-Band ist eine Emo-Band. Und eine Emo-Band die es nicht zugeben will, ist ebenfalls eine Emo-Band.
Und dann gibt es die andere Seite: Wenn du ein Profil in den sozialen Medien erstellst, musst du dich labeln. Du wirst verschiedene Boxen anhaken. Du kannst zwischen einem Dutzend von Geschlechtern wählen. Und der Algorithmus von Google und Amazon erstellt ein Profil aus jedem deiner Schritte im Internet. Sie erstellen ein Label für dich, falls du dich nicht selbst in eine Schublade stecken willst. Sie stecken dich in eine Schublade und sie kennen dich vielleicht besser als du dich selbst.
Dann gibt es noch diesen anderen Ansatz, der sagt: »Feiern wir unsere Labels einfach!« Nennen wir sie doch Identitäten und lasst uns stolz auf sie sein. In diesem Fall haben diese Labels die Funktion, zu zeigen, woraus wir gemacht sind und wie wir drauf sind, was uns beeinflusst und womit wir uns auseinandersetzen und wie unsere alltäglichen Kämpfe in dieser Gesellschaft aussehen. Vielleicht finden wir dadurch auch jemanden, der:die ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Wenn du Teil einer Minderheit bist, helfen dir diese Labels möglicherweise, andere zu finden, die von Rassismus oder Diskriminierung betroffen sind.
Aber selbst wenn diese etwas Wahres über uns aussagen, so ist doch nicht immer ganz klar, ob sie alles über sagen oder auch nur das Wichtigste von uns beschreiben. Sind wir nur die Summe unserer Labels? Sind wir die Summe dessen, was wir in uns sehen und was andere in uns sehen? Ist es nicht so, dass wir auch noch etwas ganz anderes sind als die Labels und Schubladen? Aber ist es nicht genauso wahr, dass wir nicht ganz begreifen, was das heißen würde: Anders zu sein? Trifft es nicht auch zu, dass wir manchmal weder uns selbst noch den anderen so ganz verstehen?
»Ich habe dich bei deinem Namen gerufen«
In der Bibel ist dieses Geheimnis einer Person oft mit ihrem »Namen« verknüpft. Es sind nicht unsere Labels, sondern der Name, der für unsere einzigartige Geschichte steht, für die Reise unseres Lebens und auch die Tatsache, dass jemand anderes weiß, wer wir sind. Der Prophet Jesaja sagt: »So spricht der Herr (…): Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!« (Jesaja 43,1)
Der Name steht für das relationale Du, für das Selbst, das andere ansprechen können, das Gott ansprechen kann. Wir reden viel über »Berufung« und sind bei den großen Dingen, die man so gerne in der Welt tun will. Aber berufen zu sein, heißt zunächst »gerufen« zu sein, angesprochen von Gott, jenseits all dieser Labels. Gerufen heißt: bedingungslos geliebt, aber auch herausgefordert in den eigenen Wegen, aber auch begabt zu sein um sich in dieser Welt zu engagieren und – nicht zuletzt und gerne vergessen – befreit zu sein, dieses Leben zu genießen. Es gibt ein altes Sprichwort: »There is a god and it’s not you«, d.h. »Es gibt einen Gott und du bist es nicht«. Das befreit uns davon, so zu tun, als wären wir Gott, und macht uns frei, das Leben zusammen mit anderen zu genießen, weil wir nicht die Last der gesamten Welt auf unseren Schultern tragen müssen. Denn wenn Gott uns beruft, sind wir mehr als nur diese Label und Schubladen. Das schließt die Idee mit ein, dass Gott uns besser kennt als wir uns selbst kennen können oder irgendjemand anders uns kennt. Das wird in Psalm 139, 1-5 ganz deutlich:
»Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht alles wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.«
Kollektive Identitäten
Jetzt haben wir über Labels und das Individuum geredet. Aber ich will noch einen Schritt weitergehen und über Gemeinschaften reden, über kollektive Identitäten.
Denn wir alle wissen, dass es gefährlich werden kann, wenn es eine Gruppenidentität gibt mit der sich Leute sehr stark identifizieren. Wenn Menschen behaupten: Das Wichtigste an mir ist, dass ich männlich bin. Das Wichtigste ist, dass ich deutsch bin. Das Wichtigste ist, dass ich heterosexuell bin. Oder sogar: Das Wichtigste ist, religiös zu sein.
Im Neuen Testament wird beschrieben, wie alle möglichen Leute von diesem einen Individuum angezogen werden, diesem mediterranen jüdischen Bauern namens Jesus. Leute mit verschiedenen religiösen HIntergründen, Leute mit verschiedenen Lebensstilen, an verschiedenen Punkten in ihrem Lebenslauf und verschiedenen kulturellen Hintergründen.
Man muss wissen, das Christentum ist an diesem Punkt etwas wahnsinnig. Es stellt diese Behauptung auf, dass genau in dem einen Leben genau dieser einen Person etwas Universelles passiert ist. Etwas das alle Menschen betrifft, das alle unsere menschlichen Labels durchkreuzt und jeden betrifft. Die Labels, die uns so wichtig sind, rücken in den Hintergrund im Angesicht dessen, was sich dort zugetragen hat. Seien es Labels des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, des sozialen Status, des kulturellen Hintergrunds und sogar: die Schubladen des persönlichen Musikgeschmacks. Und die Christ:innen behaupten sogar, dass dies für diejenigen wahr ist, die den Reiz des Ganzen nicht wahrnehmen. Das wird manchmal Christusereignis genannt: Dass etwas passiert, was die gesamte Menschheit betrifft. Ein ganz schön lächerlicher Anspruch, wenn man mal darüber nachdenkt, nicht wahr? Sogar völliger Wahnsinn! Aber dennoch ist es das, was das Christentum behauptet.
Konsequenzen des Christusereignisses
Und dieser Glaube hat praktische Konsequenzen. So hatte beispielsweise Paulus dieses ganz praktische Problem. Die christliche Urgemeinde in Galazien – heutige Türkei – bestand aus Gruppen mit verschiedenen Hintergründen: Die jüdisch-christliche Gemeinschaft und die sogenannten Heidenchristen. Sie hatten vollkommen unterschiedliche Vorstellungen davon, wie das Gemeindeleben aussehen sollte. Und bei Versammlungen bildeten sie zwei eindeutige Gruppen, die an verschiedenen Tischen aßen, nicht zusammen sitzen konnten, usw. Dies ist doch meistens der natürliche Verlauf: Diese Schubladen und Labels werden zu Flaggen und Parteien und schließlich zu einer Festung. Und Paulus sagt hier: Hier steht alles auf dem Spiel. Das funktioniert so nicht. Wir können aus diesen Labels keine Hierarchie machen, wo eine Gruppe über der anderen steht und sich überlegen fühlt. Das hängt zusammen mit dem Evangelium, mit dem Christusereignis, das nicht zulässt, dass eine bestimmte Identität einfach isoliert wird und zu etwas Absolutem wird. Um dieser Tendenz etwas entgegenzustellen, schreibt er: »Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.« (Galater 3, 28)
Paulus sagt hier: Im Licht des Christusereignisses verlieren letztendlich all diese Labels, alle diese Schubladen – so wichtig sie auch sind – ihre ultimative Relevanz. Im Licht des Christusereignisses mögen wir immer noch männlich oder weiblich sein, aber das ist weder die einzige noch die letzte Wahrheit über uns. Wir müssen immer noch über männlich und weiblich, Sklaven und Freie reden – allein schon um über Ungerechtigkeiten reden zu können. Aber das sollte nicht das letzte Wort haben. Wir sind nicht nur die Summe unserer Labels, sondern wir sind Leute mit einem Namen und einer Geschichte und einem Geheimnis. Und wir sind alle Menschen, die Gott bei ihren Namen ruft.
Arne Bachmann ist Studienleiter eines internationalen und ökumenischen Wohnheims in Heidelberg, wo er auch über das Thema der Gastfreundschaft promoviert. Auf dem Freakstock ist er gern am Secret Garden anzutreffen. Er wünscht sich eine Kirche, in der verschiedene Lebensformen und Identitäten zusammenfinden, ohne dass dabei eine immer den Ton angibt und eine sich immer anpassen muss.
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